N I H I L ,
oder Alle Zeit der Welt
A FILM BY ULI M SCHUEPPEL
PREMIERE: Hofer Filmtage 1987
PREISE: – „Best Filmmusic – 2nd Price“ NINO ROTA-Festival, Trossingen 1989, – „Honorable Jury-Mention“ Maritime Filmtage, Wilhelmshaven 1989
„NIHIL…“ lässt sich direkt HIER als VoD-Stream anschauen!
„… und stimme ein Lied an,
von jenseits des Grabes.“
Lautreamont“
Sie sind zu fünft. Susan ist tot. Sie sind vier. Mark liegt vom Herrscher des Wassermonopols gefangen in den Kellern der Wasserfabrik. Sie sind zu dritt um ihn zu befreien. In einer anderen Zelle entdecken sie zufällig den Einarmigen. Das Ein-zell-wesen …
Feuer, Wasser und die Insel. Ein geschlagenes Kreuz. Ein Apfel, wunde Hände und die rotierende Flasche.
Keine Richtung – irgendwo.
Die Vision ertrinkt einmal mehr.
Ein parabelhafter Alptraum aus dem Berlin 1986. Zu spät.
Dieser Kultfilm aus dem Berlin der späten 80er Jahre, der wie kein anderer das damals vorherrschende Weltbild vermittelt, erzählt in poetischen Schwarzweißbildern, in der Tradition des expressionistischen deutschen Films a la F.W.Murnau von den Gefühlen und Stimmungen jener Zeit. Eindrucksvoll untermalt von den grandiosen Klangcollagen des ‚Einstürzenden Neubauten‘-Musikers Alexander Hacke.
(M. Schmölz)
Pressestimmen
Endzeit, Zukunftslosigkeit, Fin de Siecle als Fin du Monde. Die Welt und ihre Sicherheiten brechen auseinander. Uli M Schueppels erster, im Rahmen seiner Ausbildung an der Deutschen Filmakademie entstandener Spielfilm ‚Nihil…‘ wird nun ins Kino gebracht. (…)
Im Chaos hilft nur der Glaube. In ‚Nihil…‘ mündet die Ausweglosigkeit der Stimmung nicht in dröge Lethargie, sondern in konzentrierte, fast minimalistische Mystik. Den Rahmen bildet ein nur indirektes, mittelbares Berlin, zusammengefügt aus den gerade noch erkennbaren Versatzstücken des Bestehenden, wieder zerrissen durch die gezielte Einseitigkeigkeit der Auswahl, die Licht und Dunkel ebenso eint wie gegeneinander ausspielt. Durch Keller und dunkle Gassen, durch ein einsames Niemandsland der Städte, führt der Weg in die helle Welt des Watts. über allem liegen die metallisch sirrenden Klänge, die Musik von Alexander Hacke.
Der Film formuliert, überlässt nichts dem Zufall, erklärt aber auch nicht. Ein kurzer Film: 50 Minuten, die ausreichen, eine Welt zu kreieren.
Der Tagesspiegel; Anke Sterneborg; 1988
KULTISCH – SEHENSWERT. (…) ‚Nihil…‘ dieses eigentümlich magische Werk ist nur dem Gesichtspunkt einer bestimmten ‚Berliner Szene‘ zu verstehen. Risiko, Blixa Bargeld, Einstürzende Neubauten und das ewige Geistern durch die Nacht… ‚Nihil‘ handelt von der Sehnsucht, die laut Bargeld ‚die einzje Energie‘ ist. (…)
In düsteren Bildern, die an die Tradition des deutschen expressionistischen Films, vor allem Murnau anknüpfen, wird die ziemlich lapidare Geschichte erzählt, bzw. eben nicht erzählt, sondern in symbolträchtigen Figuren elliptisch umschifft. Nun ist der Bruch mit dem langweiligen Erzählkino inzwischen uralt, aber DFFB-Studen Schueppel zeigt, dass dabei auch noch mal etwas Neues herauskommen kann. (…)
Mir scheint dieser Film doch eine ganz neue Art der musikalischen Bildverarbeitung, und eine neue Art der nicht bloß untermalenden Filmmusik zu bieten. (…)
TIP; Eraserhead; 23/88
ZWISCHENZEITLICH – Eine Ballade (…), ein dramatisches, in Strophen unterteiltes (Film-)Gedicht. Die Form ordnet sich nicht dem Inhalt unter, ist genauso wichtig wie die einzelnen Handlungsmotive: die ausdrucksstarke, fast expressionistische Schwarzweiß-Fotografie, die düstere Musik (…), die teilweise ins Surreale übersteigerte Bildsymbolik, die resignative Stimmung. Ein Film zwischen den Zeiten. Zwischen Tradition und Avantgarde. (…) Und ein Film über die Zeiten, in denen die Zeitebenen ineinander fließen und sich schließlich unentwirrbar vermischen (…).
Zitty; Georg Lacher-Remy; 23/88
MURNAU GOES UNDERGROUND. Abenteuergeschichte und Bilderrätsel zugleich ist mit ‚Nihil…‘ dem jungen DFFB-Studenten Uli M Schueppel ein beatliches Werk gelungen. (,,,) Düster schwarz-weiß (…) kann der in seiner expressiv-bohrenden Intensität – musikalisch prägnant von Alexander Hacke unterstützt – durchaus ein Lebensgefühl dieser Zeit wiederspiegeln. (…)“
Volksblatt Berlin; Ronald Glomb; 1988
(…) An diese Tradition des Bildaufbaus und der Bildgestaltung ebenso wie an eine expressionistische Erzählweise knüpft Schueppel bewusst an. In ausdrucksstarken Cadragen und Perspektiven sind die Bilder seines Films aufgenommen und vermitteln dem Zuschauer jenen ästetischen Eindruck, dem der Film als Medium seinen besonderen Einfluß auf unser Sehen verdankt. Es ist eben nicht diese Massenware visueller Grausamkeiten, (…)
FilmFaust; Bion Steinborn;1988
Es beginnt ein bisschen wie Lautreamonts Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Seziertisch: ein toter Fisch, ein Apfel, drei Glasaugen, eine brennende Bibel, Hände, die etwas am Strand vergraben. Alsbald entsteht in Uli M Schueppels Film eine Geschichte: vier junge Menschen auf einer unsicher-hoffnungsvollen Reise. Der Weg führt durch ein zusammengesetztes Niemandsland, das eine eher spirituelle, übergeordnete Verbindung zu Berlin hat, (…) Wenig ist erklärt, alles trägt zur Stimmung bei, düster, morbid, geheimnisvoll. Religiös, mystisch, poetisch. ‚Nihil…‘ von einem Filmhochschüler (…) ist eine Art europäischer Underground-Tarkowskij, doch ohne damit Bekanntes zu wiederholen oder auch nur zu zitieren.
Der Tagesspiegel; Anke Sterneborg; 1988
Der Film führt, in extrem stilisierten, atmosphärisch dichten Bildern, in eine künstlische Welt. Das Lebensgefühl, das er vermittelt, zeugt – deutlich geprägt durch Erlebnisse und Erfahrungen nach Tschernobyl – von Trotz gegen Resignation, von Kraft zum Widerstand. Aber der Film gaukelt nichts vor: Wie die Menschen ihre Götter und Götzen schaffen, so schaffen sie auch ihre Hoffnungen, utopien, Illusionen. In ‚Nihil…‘ wird die Konstruktion sichtbar: als Konstruiertes, der Traum erkennbar: als Geträumtes. Ein Lob auch dafür, dass der Film wieder einmal daran erinnert, welche Besondere Bedeutung die Farbe Schwarz für das Kino hat.
Belobigung der Jury; Dr. Norbert Grob; Wilhelmshavener Maritime Filmtage 89
Nix Babylon, Asshole !
Chronik eines abgelaufenen Films
von Uli M Schueppel, Berlin Oktober 1987
SOMMER 86 – Hab die Tage ziemlich heiß in Erinnerung. ODER? Gerade mal auszuhalten an irgendeinem Tresen, direkt unter dem rotierenden Ventilator, den Screwdriver an den Fingern klebend. Oder besser noch im „Gift“, unter der Erde – unter uns. Da war dann auch JEDER, nachmittags, noch wach, wieder wach, seit Tagen wach – verschlafen.
Irgendwelche Fußballmeisterschaften beherrschten die Öffentlichkeit, Europa – die Welt? Aus irgendeiner dieser Reportagen griff ich mir jedenfalls meinen Arbeitstitel. Ein Stürmer umtrippelt den Torwart, und schießt am leeren Tor vorbei: „…aber er hatte doch ALLE ZEIT DER WELT…“
In den Nächten entstanden die Scriptvorläufer. Meist saß ich in irgendeiner Ecke des Hansa Studios. Hintereinander nahmen die „Einstürzenden Neubauten“, Nick Cave und seine „Bad Seeds“ und „Crime & The City Solution“ dort ihre Alben auf. Ich musste jedenfalls nur die Augen schließen und schon flimmerte der Projektor ab, es wucherten Bilder wie Unkraut zu den neu entstehenden Klängen. Hier fühlte ich die Stimmung, die ruhig-intensive Atmosphäre, die den Film einmal tragen sollte. Es entstand die Parabel und das Balladeske. Wichtiger als Geschichte und Handlung sollte die expressive Stärke und Poesie der Bilder sein.
Keine Realität, kein Heute sollte direkt gezeigt werden, sondern sich nur in der Präsenz, in den Gesichtern der Darsteller widerspiegeln. Keine Straßen, keine Autos, keine Menschen, kein Berlin. Und doch sollte WestBerlin, und kein anderer Ort durch den ganzen Film hindurch anwesend sein, das gezeigte Gefühl, und auch das Weltbild sollte nur hier Ende der 80er entstanden sein können.
Überall bildeten sich (kleine) Gruppen, Energien, die verzweifelt sich nach VORN bewegen. Irgendwohin. Illusion ohne Hoffnung – Verlierer, die zu Helden werden. Kein Ziel (welches?) zählt mehr. Nur die Bewegung… Fort.
Von Vornherein war klar, dass ich nicht mit „professionellen“ Schauspielern arbeiten wollte, sondern mit Freunden, Bekannten, die sich auch in der Realität selbst darstellen können. Daraus ergab sich eine umgekehrte Vorgehensweise: Nicht anhand des Drehbuchs und der darin angelegten Charaktere suchte ich die Darsteller, sondern ich wusste vorwiegend mit wem ich drehen/arbeiten wollte, und schrieb auf die jeweilige Person die Rolle und ihre Geschichte zu.
Abgesehen von der viel größeren Authentizität entstand dadurch während der Dreharbeiten nicht diese unangenehm, überflüssige Grenze zwischen „Denen-Vor“ und „Denen-Hinter“ der Kamera.
Nun gut, das Script war halbwegs/halbherzig fertig, und der Sommer ausgeträumt.
(Tagebuchauszug 13.09.86)
1 Tag vor 0. Next NO Time.
Erste und Letzte Probe. Vielmehr, wir lesen zusammen das Script. Aus dem Hintergrund funkelt Velvet Underground. Da sind auch die Bilder. Friedrich leert meinen Kühlschrank. Ein grauer Samstag. Die Kamera ist ungeboren. Wir filmen mit dem Körper. Es gilt den deutschen Film der letzten 60 Jahre zu vergessen, auszuradieren, abzuschalten.
Gesine lächelt – die Gestalt einer Träne wirbelt durch Sehnsucht. RIESENGROSS. Wir denken nicht an Film, hier geht es um Kino, Magie, ein inneres Erlebnis schaffen, und Olivier nickt…
Blixa in der Ritterstr. Getroffen. Das anfängliche Konzept seiner Rolle, eine Hommage unserer gemeinsamen Bewunderung für Artaud, verselbstständigt sich immer mehr. Seinen Text noch mal durchgegangen. Metallhand vergessen. Er hat wohl auch einige Tage nicht mehr geschlafen. „Sag mir nur, was dir an deinem Text wichtig ist?!“ Seine Zettel sind übervoll mit Sätzen. Auch hier keine Simulation. Blixa ist der einarmige Gefangenen. Der Visionär. DIE VISION.
HERBST 86. Wiedermal das eigentliche (und bessere) Abenteuer, gegenüber der Story, sind die Dreharbeiten. Mit einigen Unterbrechungen, vor allem weil uns immer wieder das Geld ausgeht, ziehen sie sich von Mitte September einen Monat lang hin. Innerhalb Berlins drehen wir nur nachts. Das heißt dann immer gegen 17 Uhr Lichtaufbau, 20uhr die erste Klappe, Sonnenaufgang Ende. Danach zusammen Frühstück und Besprechung der kommenden Nacht.
Oft genug stellt sich dabei heraus, dass der nächste Drehort noch gar nicht vorhanden ist, oder uns nicht mehr zusagt, gekündigt, etc. Dann ist auch noch der Tag damit ausgefüllt etwas Neues, Besseres, vor allem aber Kostenloses zu suchen. Selbst ein Segelboot mitsamt nach zwei Nächten völlig entnervtem Kapitän können wir ohne Geld auftreiben. Angeblich soll das Boot „nach uns“ ein Leck gehabt haben… Die „Sintflut“ haben wir leider wohl des öfteren hinterlassen!
Die Drehzeit lässt uns in einen Rausch versinken. Außerhalb des Films ist nichts mehr existent., hat nichts mehr Gültigkeit. Wie viele Tage/Nächte ohne Schlaf?
Wäre „draußen“ eine Katastrophe ausgebrochen, wir hätten es erst bemerkt, wenn uns der Strom abgestellt worden wäre. Piraten in stürmischer See, nur mit sich selbst und der Illusion beschäftigt.
(Tagebuchauszug: 14.09.86)
Die 1.Drehnacht steht bevor. Kein Schlaf, zähle im Bett die fehlenden, noch unorganisierten Dinge wie Schafe.
Sonntagmorgen. Fahre zum Gelände am Görlitzer Bahnhof. Wie befürchtet: Die ganzen Kritzeleien, Sprüche und Zeichnungen müssen natürlich von der Mauer verschwinden, außerdem könnten die Steine hellere Konturen gebrauchen. Besorge Farbe, und male einige Meter grau. Die Anwohner und Spaziergänger halten mich für völlig durchgedreht – eine abrissreife Mauer anpinseln… Sonntagstherapie!
Um 19Uhr hat Friedrich die Waffen immer noch nicht fertig. Nun doch AN DER ZEIT durchzudrehen!
20:30, Alles vergessen. Ein kleines Kunstwerk sein Umbau der Plastik-Mp aus der Kinderabteilung von Karstadt – und erst der Wagenheber als Lasergewehr…
Gegen 3Uhr braust Andrew (N.U.) Unruh mit Mark Pauline von den Survival Research Laboratories (San Francisco) auf seinem Moped an. Er habe gehört, dass wir eine Szene drehen, in der eine Mauer in die Luft fliegen soll, und da Mark doch Spezialist für derlei Effekte sei…
Wirklich überrascht bin ich, wie Friedrich sich in seine Rolle und den Film hineinwirft. Er weigert sich strikt die Simulation vor der Kamera anzuerkennen, sodass die Aufnahmen mit ihm immer auch dokumentarischen Charakter haben. Zum Beispiel beginnt er bei seiner Befreiungsszene aus der Zelle bereits fünf Stunden vorher sich so fertig und kaputt zu machen, nackt im Dreck zu wälzen, anzuketten, als habe er wirklich die letzten 4 Monate in der Zelle zugebracht. Beim Dreh dann ist er kaum noch anzusprechen. Regieanweisungen kommen für ihn aus einer anderen Welt. Mehrere gleiche Takes (Anschlüsse?), oder gar Text sind fast unmöglich. Oft müssen wir einfach drauflosfilmen, und warten was passiert.
Friedrich spielt dann nicht mehr MARK – ER IST MARK. Dadurch entsteht bei ihm eine Art „Schizophrenie“, die uns Alle während der Dreharbeiten permanent in Atem hält, die aber auch nach Drehschluss nicht abzuschalten ist.
Es ist (schon?) nach der vierten Nacht. Wir haben durch Abstimmung (!!!), aus der bisherigen Erfahrung heraus beschlossen während der nächsten Drehnächte wenigstens keinen Alk mehr am Set zu dulden. Friedrich scheint einverstanden.
Ich verbringe den Tag bei einer Freundin, in der Zeit geht bei mir zu haus unaufhörlich das Telefon, und ich brauche einfach nur Ruhe. Beim Nachmittags-Expresso im „Mitropa“ erfahre ich, was ‚Jedermann’ (= Berlin) schon zu wissen scheint: Friedrich hat am Morgen seine Wohnung verwüstet, rote Farbkübel überall hin vergossen, habe sich dann auf irgendeiner Brücke ausgezogen, seine Kleidung in den Kanal geworfen, und würde nun, nur mit einem Trenchcoat bekleidet, ein Messer in der Hand mich suchen, um mich umzubringen. Well!
Absurderweise denke ich als erstes an die Kleidung, die wir für weitere Szeneanschlüsse gebraucht hätten, und gehe dann nach Hause. In dem bieder-konservativen Mietshaus herrscht Panik, die Alte von unten zittert immer noch. Friedrich (oder war es Mark) hinterlässt Spuren, quer über meine Wohnungstür fünf rote Streifen, als habe jemand mit blutenden Fingern Halt gesucht. Es war Farbe.
Ich sage die Drehs der kommenden zwei Tage ab und tauche erst mal unter. Am nä#chsten Tag, Friedrich auf dem Anrufbeantworter: „Wasn’ los? Srteh hier blöde am Drehort – keiner da! Wann gehtsn’ weiter mit dem Scheiß-Film?“ Längst war alles vergessen…
Vom Team hat er bald den Namen „Fritz von Sinnen“ abbekommen. Da sind unzählige Geschichten und Bilder in meinem Kopf, der „erlebte“ Film. Immer tobt Friedrich mit seiner gewaltigen Intensität zwischen uns, und diese bei Allen freigesetzten Energien sind wohl auch noch im Nachhinein beim Betrachten des Films spürbar.
Kurz bevor wir für eine Woche an die Nordsee aufbrechen erzählt mir jemand aus dem Team seinen Traum: Ein schlossartiges Wasserwerk, direkt auf DER Insel. Unzählige Zimer, Gänge an deren Rand stinkende Abwässer entlangrinnen. Tiefe Nacht, Team und Darsteller schlafen wie betäubt in viel zu weichen Matratzen.Und dann plötzlich Friedrich, DIE Axt blutig, stürzt von Raum zu Raum, um Jeden bestialisch zu zerhacken…
Natürlich nichts davon – still alive. Aber ich kein gutes Gefühl, dass mit diesen Dreharbeiten solche Ängste ausgelöst werden.
Und dann doch noch ein Bild des letzten Drehtags. Wieder Westberlin, Obentrautstraße. Bei und mit Kloie. Ein unfreiwilliger Nachdreh, nachdem diese Szene durch den Negativriss im Kopierwerk fast völlig zerstört wurde. Die Sentimentalität des „letzten Drehs“ lässt uns Friedrich schnell vergessen. Nachdem er einige Gläser/Flaschen zertrümmert hat, Bananen durch den Raum geflogen sind, und eine durchaus ernst zunehmende Schlägerei mit Olivier begonnen hat, setzen wir ihn eiligst vor die Tür. Einige Zeit später, ich sehe während des Lichtumbaus zufällig aus dem Fenster, greift Friedrich eine Gruppe Türken an, die gerade das benachbarte Karate-Center verlassen. Wir rasen alle, sogar noch verstärkt durch einige Musiker, die dem Dreh zugesehen haben, nach draußen, aber da kniet Friedrich bereits mitten auf der Strasse. Ein blaues Auge, die Nase blutig, umringt von den offensichtlich irritierten Türken, schreit er in die Nacht: „Ich bin auch ein Asylant! Ich bin auch ein Asylant!“
WINTER 86. Es folgen lange Monate im Schneideraum – Strafarbeit. Töne umspielen, anlegen, ausmustern und die ersten allzu holprigen Rohschnitte – eine Qual… Aber der Nachdreh des Epilogs steht noch aus und ich sehne mich danach. Bruno Dunst hat sich bereit erklärt den „alten Mark“ darzustellen, das freut mich besonders denn ich bewundere seine Liebe zum Film als rühriger Betreiber des Schlüter-Kinos schon lang. Bruno Dunst ist mitte 60 und er hat tatsächlich seit 25Jahren nicht mehr WestBerlin verlassen, immer andere Rollenangebote in Westdeutschland abgelehnt und umso höher ist seine Zusage einzustufen.
Die Organisation des Drehs ist äußerst schwierig. Zu jedem neuen, und wiederum gecancelten Termin, muss jeweils ein völlig verändertes Team zusammengestellt werden. Bruno hat einen Vorführer für sein Kino zu finden, die mitreisenden Kinder dürfen keine Schule im Nacken haben, und Blixa muß mit den eng zulaufenden Proben des Zadek-Stücks im Schauspielhaus Hamburg koordiniert werden.
Am Sonntag, vier Tage vor der „Andy“-Premiere ist es dann soweit. Weil kein Geld mehr vorhanden, müssen wir Anfahrt, Dreh und Rückfahrt auf einen Tag komprimieren…
(Tagebuchauszug: 24.02.87)
Drei Uhr nachts in Berlin mit zwei Bussen los. Vorher noch mal mit Blixa telefoniert, erzählte was von Grippe, etc. Höre gar nicht hin. Keine Wahl mehr, zu spät zum umlegen (wen?). Diesmal muss alles klappen! Von wegen ALLE ZEIT DER WELT…
Bruno direkt vom Ende seiner Spätvorstellung abgeholt. An der BRD-Grenze festgestellt, dass sämtliches Tonmaterial in Berlin vergessen wurde. Auch das noch… Den knappen Zeitplan längst überschritten. Ein Bus fährt direkt ans Meer, Olivier und ich machen den Umweg Blixa, und wenn möglich Tonbänder aufzuladen.
Hamburg, Sonntagmorgen. Blixa liegt schweißgebadet im Bett, bleicher denn je, 40Grad Fieber. Seine Stimme ein einziges Krächzen. Komme mir wie ein Schwein vor ihn da rauszureißen – tue es trotzdem… Vor allem, er kommt mit! Liebe ihn (für immer!) dafür…
Mit Alex und Marc Chungs Hilfe mehrere Leute aus den Betten geholt, bis wir die Bänder zusammen haben. Endlich wieder Autobahn, mit Blixa, einer Mega-Plastiktüte Medikamente, den Bändern, und Alex, dem gerade nach einem „kleinen Sonntagsausflug“ ist. Lautstarke Elvis-Songs aus dem Ghettoblaster schieben, je nördlicher wir kommen die Wolken, meine/unsere miese Laune und die Müdigkeit weg. Zum ersten Mal dieses Jahr bricht die Sonne aus.
13Uhr Drehbeginn. Höchstens vier Stunden Licht für 15 Einstellungen. Jeder arbeitet im Zeitraffer. Dazu kommt ein stürmischer Nordost-Wind von Schweden, Minus 25 Grad. Habe Blixa meine Handschuhe gegeben, überall platzt mir die Hand auf, alles voller Blut. Wir haken nur das Nötigste der festgelegten Auflösung ab – Maschinen im Eis. Bin völlig leer, finde keine Ruhe in den Film, den Ort, die Atmosphäre zu kommen. Immer nur hinter dem zu erledigenden Pensum, dem Notwendigsten hinterherhinkend. NIE WIEDER! Wenigstens scheinen die Kinder ihren Spass am Meer zu haben…
17Uhr Rückfahrt. Ein Bus direkt nach Berlin. Bruno erzählt später, er habe stundenlang singen müssen, da Ciro immerwieder am Steuer einschlief. Mit Alex, Blixa und Olivier zurück nach Hamburg. Blixa sofort wieder ins Bett. Wir Anderen lenken uns bis zum Morgen im Hamburger „Nachtleben“ ab. Trotzdem froh…
Montagmittag Berlin und schlafen.
FRÜHLING 87. Irgendwann war endlich eine Rohschnittfassung fertig, mit der ich halbwegs zufrieden war. Der Rhythmus stimmte, obgleich wir ihn erstmal nur als Vorschlag, als Anhaltspunkt für die Musik verstanden. Die Musik blieb die große Unbekannte. Es war als hätten wir ein Skelett gebaut, einen Körper geformt, dem nur noch das Blut zum Pulsieren, sich bewegen fehlte.
Alex Hacke war von Anfang an sozusagen der „Wunsch-Komponist“ – allerdings sprachen wir lange Zeit nicht darüber. Zwar kam er bei den Dreharbeiten öfters vorbei, dann in der Nachbereitungsphase aber glitten unsere nächtlich-morgendliche Treffen immer schnell in wilde Exzesse aus, so dass über Film nicht zu reden war. Inzwischen boten mir mehrere Berliner Musiker und Gruppen an die Musik zu machen. Irgendwie hörte Alex davon, kam an, und meinte nur: „Ist doch klar, dass ich die Musik mache, oder?“ Na klar!
Faszinierend, wie Alex reale Töne aus ihrer Räumlichkeit, ihrem Ursprung holt, um sie zu neuen Instrumenten seiner Komposition zu machen. In „Kids Traum“-Thema mischt sich zum Beispiel nach dem monoton-magischen der Peitschenhiebe und des Basslaufs, ein tiefes vibrierendes Brummen hinzu. Man spürt in seiner Beweglichkeit, dass dies kein synthetisch erzeugter Ton sein kann. Alex erzählte mir dann, dass er diesen Ton unter der Golden-Gate-Bridge in San Francisco „fand“.
Welch ein Gefühl „Kids Traum“ zu sehen, diese mythisch-rituellen Bilder, und dann in diesem Ton die rollenden Trucks und Cadillacs zu ahnen! Eigentlich ganz ähnlich war auch unser filmisches Herangehen und Umsetzen von Realität in die Künstlichkeit der Geschichte, des Settings und des Castings gedacht.
Die „Einstürzenden Neubauten“ haben inzwischen in Hamburg Zadeks pubertärem „Andy“ zu ansehnlichem Erfolg verholfen, während sich bei mir finanziell alles weiter verdunkelt – eine langsame, kontinuierliche Abblende. Irgendwann beichte ich Alex, dass ich Schwierigkeiten habe für unsere Aufnahmen selbst ein mittelmäßiges 8-Spur-Studio zu bezahlen. Völlig überraschend bietet er mir sofort an, die Musik selbst zu produzieren…
(Tagebuchauszug: 10.04.87)
Hamburg, Building Site Studio, dritter Tag, Nacht, Tag… Wieder direkt nach der Vorstellung im Schauspielhaus ins Studio. Zadek würdigt mich seit gestern keines Blicks mehr. Alex hat sich einen Spaß daraus gemacht mich ihm als „jungen, viel-versprechenden Regisseur“ vorzustellen… Gibt es was Schlimmeres? HaHa, Bastard! … Dabei bin ich schon wieder mitten in der Aufführung eingeschlafen, nur kurzfristig wachgerüttelt durch Neubauten-Laute. Gebs auf!
Alex spielt zum ersten Mal Mundharmonica zu Lisas Liebes-Rückblende. Er fabriziert Töne, wie langgezogene, disharmonische Seufzer, die voller Sehnsucht in die Monitorbilder des Watts wehen… feeling blue…
Wohin haben sich wieder Nacht und Tag verloren? 18Uhr wieder zum täglichen Soundcheck zurück ins Schauspielhaus. Jedesmal genieße ich diese halbstündige Live-Improvisation wie ein Geschenk. Das klassisch-prunkvolle Theater menschenleer, und diese Musik aus einer völlig anderen Welt…
Spannend zu erleben wie es Alex gelingt die Atmoshäre der Bilder in seine Komposition einzubetten. Das Leitthema zum Beispiel, diese mehrschichtigen Gitarrenklänge, Rückkopplungen, die vorwärts und zurück rauschen, ohne sich aufzulösen, diese Illusion einer sich nach vorn richtenden Bewegung, wie Wellen einer imaginären Brandung. Oder auch beim Prolog und Epilog, die sich visuell durch die jeweiligen Flammen zu einem Kreis schliessen, empfindet Alex diese Idee nach, verstärkt sie noch, in dem er für Beide das gleiche Stück benutzt. Zu Beginn „normal“-vorwärts, am Schluss aber rückwärts, sodaß auf der brennenden Bibel und Blixas Abgang hinter der Feuerwand, der gleiche Ton liegt – lastet.
SOMMER 87. Kein Sommer. Als wir erfahren, dass Heinz Badewitz „Nihil“ auf den Internationalen Hofer Filmtagen zeigen wird feiern wir eine Woche.
Arbeite nun schon seit vier Monaten das vom Ex N’ Pop in den Film gepumpte Geld dort ab. Wird sich aber wohl noch ein Jahr hinziehen, bis wir quitt sind…
HERBST 87. Premiere bei den Hofer Filmtagen. Unsre Vorfreude sinkt auf Null, als wir erfahren, dass der Film für den Eröffnungsabend um 0:30 programmiert ist. Und tatsächlich verschwinden alle (Presse, Verleiher, etc.) nach dem Eröffnungsfilm „Himmel über Berlin“ in irgendwelchen Kneipen. Bis kurz vor Beginn der Vorführung sitzen Olivier und ich allein da… Da taucht wie aus dem Nichts plötzlich Wim Wenders mit Solveig Dommartin auf, sowie ein Journalist und eine (!) Zuschauerin aus Hof.
Der Journalist ist Bion Steinborn, und stellt sich danach als Herausgeber der Filmzeitschrift „Filmfaust“ vor und möchte zu unserem Film eine Titelgeschichte machen. Bei der Pressekonferenz zu „Himmel über Berlin“ am nächsten Morgen erzählt Wim Wenders ausführlich (!!!) über „Nihil“, sofort wird von der Festivalleitung ein zweiter Vorführtermin eingeräumt, der dann auch sofort ausverkauft ist….
DARSTELLER:
Mark: Friedrich Wall
Oliver: Olivier Picot
Lisa: Gesine Böhle
Kid: Kai F.
Visionär: Blixa Bargeld
Susan: Cat K.
Mark (alt): Bruno Dunst
Mark (jung): Jens Mettelsiefen
Maria: Kloika Picot
u.v.a.
TEAM:
Kamera/Licht: Ciro Cappellari
Kamerassistenz: Roger Heeremann
Anka Schmid
Lucien Segura
Josy Meier
Lichtassistenz: Frank Blasberg
Ton: Ludger Blanke
Angelika Becker
Austis Thorrodson
Sounddesign: Uli M Schueppel
Synchronsprecher: Efa Schütte
Christoph Parke
Radiostimme: Oliver Schunt
Geräuschemacher: Karsten Ray
Mischung: Martin Steyer
Musik: Alexander Hacke
Instrumente: F.M. Einheit
Alexander Hacke
Marc Chung
Martine
Studiotechnik: Thomas Stern
Ausstattung: Hannes Heiner
Kai F.
Friedrich Wall, u.a.
Titel: Birgit Tümmers
Garderobe/Make-up: Dawn Neale
Schnitt: Inge Schneider
Schnittassistenz: Andrea Wenzler
Negatvschnitt: Barbara Cordts
Script: Joanna Stolberg
Aufnahmeleitung: Myriam Dehme
Produktionsleitung: Hans W. Müller
Drehbuchberatung: Harry Rag
Regieassistenz: Ernst Schraube
Buch & Regie: Uli M Schueppel
Produktion: schueppel-produktion
Deutsche Film- und Fernsehakademie ( D F F B )
Gedreht auf ORWO- S/W-Material in WestBerlin, Nordstrand, Heiligensee
Sept/Okt 1986 & März 1987